Streit um richtige Impf-Stategie muss im Bundestag geführt werden - nicht in Talkshows

Im Corona-Jahr 2020 erlebten die Grundrechte eine gesellschaftliche Renaissance. Seit der Einführung der Notstandsgesetze im Jahr 1968 wurde in der Bundesrepublik nicht mehr so erbittert über Grundrechte, individuelle Freiheiten, Gesetze und Verordnungen gestritten wie im vergangenen Jahr.

Einen Höhepunkt erreichte die Diskussion, als der Bundestag im November für das dritte Gesetz „zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, besser bekannt als Infektionsschutzgesetz, stimmte. Der Abstimmung waren scharfe Debatten über das Verhältnis von Exekutive und Legislative, die Beteiligung der Parlamente an Entscheidungen von grundrechtsrelevanter Tragweite und das Durchregieren mittels exekutiver Verordnungen geführt worden. Ein damals fraktionsübergreifend oft gehörter Tenor lautete: Die Parlamente müssen stärker in die Bekämpfung der Corona-Pandemie eingebunden werden, um die Grundrechte und den Infektionsschutz in Einklang zu bringen – und kritische Entscheidungen vom Gesetzgeber legitimieren zu lassen.

Impfdebatte: Die Bevölkerung wird vor existenzielle, aber leider viele unbeantwortete Fragen gestellt

Zurecht fordern namhafte Verfassungsrechtler, dass der Verfassungsgesetzgeber die massiven Grundrechtsbeschränkungen beschließen muss, nicht ein Minister mittels Rechtsverordnung. Das schafft, so die einhellige Meinung, mehr Transparenz und Akzeptanz für die einschneidenden Maßnahmen.

Nicht einmal zwei Monate später schlagen die Vertreter der zuvor scharf kritisierten Exekutive diese Warnungen erneut in den Wind. In der sich seit Monaten anbahnenden Impfdebatte wird die Bevölkerung vor existenzielle, aber leider viele unbeantwortete Fragen gestellt: Wer wird zuerst geimpft? Werden Beschränkungen für geimpfte Personen schneller aufgehoben als für Nicht-Geimpfte? Und gibt es so eine Impfpflicht durch die Hintertür? Manch Abgeordneter verweist in diesem Zusammenhang auf die Empfehlungen des Deutschen Ethikrats und der ständigen Impfkommission, die von der Bundesregierung letztendlich auch nur umgesetzt werden. Doch wer so argumentiert, verschlimmert lediglich die Lage. Querdenker und Corona-Leugner propagieren schon seit Monaten die vermeintliche Gesundheitsdiktatur, in der Virologen mehr Einfluss hätten als gewählte Politiker. Verschwörungstheorien über das Impfen haben Hochkonjunktur – und selbst wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung diesen kruden Erzählungen Glauben schenkt, treffen sie in einem sowieso schon angespannten Umfeld einen Nerv. Wie sonst ist zu erklären, dass die Impfbereitschaft der Deutschen seit Beginn der Corona-Krise kontinuierlich abgenommen hat?

Der Streit um die richtige Strategie sollte im Bundestag geführt werden - nicht in Talkshows und Tageszeitungen

Statt diese zentralen Themen transparent für die Öffentlichkeit im Bundestag zu adressieren und so in einer verunsicherten Bevölkerung überzeugend für das Impfen zu werben, wird der regierungsinterne Streit um die richtige Strategie in Talkshows und Tageszeitungen geführt. Die Bundesregierung verkennt dabei – trotz aller gegenteiligen Beteuerungen – die genuinen Funktionen der Parlamente in der Demokratie: Sie sind nicht nur Gesetzgeber und Kontrollinstanz für die Regierung, sie üben auch eine zentrale Öffentlichkeitsfunktion aus. Die Abgeordneten des Parlaments sollen die in der Bevölkerung vorherrschenden diversen Auffassungen und Meinungen zum Ausdruck bringen, dafür sind sie vom Volk gewählt worden. So ist das Parlament immer auch ein Ort des Wettstreits der politischen Ideen und Interessen. Jeder Abgeordnete und jede Partei tragen eigene Stimmen zu diesem Wettstreit bei. Lässt die Bundesregierung den Bundestag bei ihren Corona-Entscheidungen außen vor, unterminiert sie die öffentliche Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger im Parlament – und hindert das Parlament gleichzeitig daran, die Bevölkerung über alle relevanten Fragen und Fakten in einem politischen Diskurs zu informieren. Die Fragen, welcher Impfstoff aus welchen Gründen wann an wen verteilt wird, können über Leben und Tod entscheiden. Genau deshalb muss das Parlament in dieser Debatte seine so essenzielle Aufgabe als Ort der Öffentlichkeit und als Gesetzgeber wahrnehmen können.

Pünktlich zu Beginn des Wahljahres zeigt GroKo Zerfallserscheinungen - mitten in der größten Krise seit Jahrzehnten

Doch schon auf den zahlreichen Corona-Sondergipfeln im vergangenen Jahr verzichtete die Regierung weitestgehend darauf, ihre Entscheidungen in die Parlamente zu tragen. Stattdessen beschlossen die Regierungschefs von Bund und Ländern hinter verschlossenen Türen manchmal schwer nachvollziehbare oder auch widersprüchliche Maßnahmen, die anschließend der irritierten Bevölkerung in päpstlicher Manier vorgetragen wurden – auch wenn diese oft schon vor Beginn der Sondergipfel dank durchgestochener Beschlusspapiere bestens informiert war. Erschreckende Parallelen zeigen sich nun in der Impfdebatte. Und so wundert es nicht, dass die Vorschlagsliste für das (Un-)Wort des Jahres 2021 mit „Impfpflicht“, „Impfnationalismus“ und „Impfprivilegien“ bereits prall gefüllt ist. Dass die Bundesregierung bei der Verteilung der sowie schon viel zu wenigen Impfdosen auch noch in heillosem Chaos versinkt, verstärkt die Katastrophe noch zusätzlich. Ein nachhaltiges und nachvollziehbares Konzept ist noch immer nicht in Sicht. Der nun kurzfristig durch das Kanzleramt anberaumte Impfgipfel verdeutlicht das Ausmaß des Impfdesasters und ist ein Eingeständnis des bisherigen Scheiterns. Die große Koalition zeigt im Impfstreit pünktlich zu Beginn des Wahljahres besorgniserregende Zerfallserscheinungen – und das inmitten der größten Krise seit Jahrzehnten.

Von Attila Hildmann bis Xavier Naidoo: Mit ihrem Verhalten öffnet die Bundesregierung Untergangspropheten Tür und Tor

Mit ihrem Verhalten schadet sich die Bundesregierung nur selbst und öffnet den Untergangspropheten von Atilla bis Xavier wie schon zuvor beim Infektionsschutzgesetz Tür und Tor. Mit einer dem Bundestag vorgelegten detaillierten Gesetzesgrundlage zur Impfstrategie hätte die Bundesregierung diesem Streit schon früh Schärfe und Verdruss nehmen können, die Zeit dafür war 2020 ausreichend vorhanden. So werden letztendlich wieder die Gerichte als unfreiwillige Feuerwehr über die Verfassungskonformität der exekutiven Verordnungen entscheiden müssen. Selten zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurde so intensiv über die Grundrechte und Freiheiten gestritten – dass der Streit so erbittert geführt wurde, ist nicht allein dem Virus geschuldet. Man wünscht sich, die Bundesregierung hätte daraus gelernt. Stattdessen grüßt das Murmeltier.


Dieser Gastbeitrag erschien erstmal am 05.01.2020 bei Focus Online.


Thema