Lesbos: Die Katastrophe in Kauf genommen

Auf der griechischen Insel Lesbos spielt sich eine humanitäre Katastrophe vor unseren Augen ab. Darauf muss Deutschland mit mehr reagieren als der frommen, vergeblichen Hoffnung auf eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise.

Auf der griechischen Insel Lesbos spielt sich eine humanitäre Katastrophe vor unseren Augen ab. Darauf muss Deutschland mit mehr reagieren als der frommen, vergeblichen Hoffnung auf eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise.

"Man flieht vor dem Rauch und stürzt in die Flamme" lautet ein Sprichwort aus der Region, in der sich täglich Flüchtlinge auf morschen Booten über das Mittelmeer wagen - stets auf der Suche nach einem besseren Leben. Tausende sind in den vergangenen Jahren bei der Überfahrt ertrunken. Wer sie überlebt, landet höchstwahrscheinlich in einem der zahlreichen Lager auf griechischen und italienischen Mittelmeerinseln. Dort leben die Flüchtlinge in prekären, menschenunwürdigen Bedingungen und fristen ein trostloses Dasein. So ergeht es auch den rund 18.000 Flüchtlingen, darunter viele, teilweise unbegleitete Kinder, auf der griechischen Insel Lesbos. Auf Lesbos hat sich vor unser aller Augen eine humanitäre Krise entwickelt, wie wir sie in den Grenzen der Europäischen Union nicht für möglich gehalten haben.

Die Lage in den Flüchtlingslagern Olive Grove und Moria könnte dramatischer kaum sein: Sie sind hoffnungslos überfüllt, die hygienischen Zustände nicht tragbar, gewalttätige und sexuelle Übergriffe an der Tagesordnung. Die meisten Flüchtlinge leben bei Dunkelheit in Angst und trauen sich nicht aus ihren provisorischen Plastikzelten heraus. Medizinische Versorgung, insbesondere für Kinder und schwangere Frauen, ist in Olive Grove nicht vorhanden. So schlägt die Stimmung auf Lesbos zunehmend um: Flüchtlinge demonstrieren gegen die menschenunwürdigen Zustände in den Lagern und gegen das monatelange Warten auf Entscheidungen im Asylverfahren. Einwohner treten in den Generalstreik, um auf die desolate Flüchtlingspolitik hinzuweisen. Sie fordern, dass die Regierung in Athen Flüchtlinge von den hoffnungslos überlasteten Inseln aufs griechische Festland umsiedelt. Die griechische Regierung reagiert mit einem Vorschlag, der keinem hilft: Schwimmende Mauern in der Ägäis sollen die Flüchtlinge von der Überfahrt vom türkischen Festland abhalten. Der Vorschlag sei so albern wie sinnlos, betont der Gouverneur von Lesbos, Kostas Mouzouris. Der Leiter der lokalen Frontex-Mission bringt die Absurdität auf den Punkt: Die schwimmenden Mauern könnten nur in griechischen Gewässern errichtet werden. Damit sind die Flüchtlinge, wenn sie die schwimmenden Mauern erreichen, bereits auf griechischem Hoheitsgebiet - und damit berechtigt, Asyl zu beantragen. Kein Wunder, dass die Wut auf die Zentralregierung immer größer wird.

Europäische Seenotrettung sollte wiederbelebt werden

Eine deutlich ausgereiftere Idee stammt vom Auswärtigen Dienst der Europäischen Union. In einem vertraulichen Bericht plädiert das Gremium für die Wiedereinführung von Schiffsmissionen zur Bekämpfung von Menschenhändlern und zur Rettung von Flüchtlingen. Seit dem Aussetzen der Mission Sophia im vergangenen Sommer, beteiligt sich kein EU-Staat mehr an der Rettung von Flüchtlingen. Die gesamte Last tragen private und kirchliche Hilfsorganisationen, die dafür angefeindet und deren Vertreter teilweise verhaftet werden. Es ist jedoch die ethische und humanitäre Pflicht der Europäischen Union, dass sie Menschen hilft, die vor der eigenen Haustür sterben. Die Europäische Union agiert in der Flüchtlingsfrage seit Jahren ohnmächtig und befeuert mit ihrer Untätigkeit das Leid der Flüchtlinge, die noch kommen werden.

Die bereits angekommenen Flüchtlinge in den Lagern von Lesbos werden diese trüben Aussichten kaum kümmern. Obwohl sie das vermeintlich rettende Ufer bereits erreicht haben, müssen sie ihr eigenes Überleben sichern. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, Syrien, aus der Demokratischen Republik Kongo und dem Irak. Die kriegerischen Konflikte in ihren Heimatländern sind der Grund, warum sie sich auf die lange und gefährliche Reise nach Europa gemacht haben. Dass Verfolgung und Gewalt die Motive ihrer Flucht sind, müssen Bundesregierung und Europäische Union anerkennen und sich gezielt für politische Lösungen einsetzen. Dazu gehört die medizinische Erstversorgung von ankommenden Flüchtlingen. Dazu gehört das Recht auf Bildung, auf soziale Sicherheit, auf Wohnen und das Recht auf Arbeit. Zu oft wird Migration lediglich ordnungspolitisch interpretiert. Zu oft werden Flüchtlinge als Waren betrachtet, die man gleich einer Bestellung beim Versandhaus zurückschicken kann. Dass man über das Schicksal von zehntausenden Menschen mit Rechten und Gefühlen spricht, muss immer wieder betont werden. Eine europäische Lösung wird es nicht geben Ein paar wenige europäische Regierungen schicken Hilfslieferungen in die Flüchtlingslager, andere ignorieren das Problem vollends.

Die Bundesregierung wiederum pocht auf eine europäische Lösung und weiß doch, dass diese nicht zustande kommen wird. Wenn sich Innenminister Horst Seehofer bereit erklärt, bei einer europäischen Einigung ein Viertel aller Flüchtlinge aufzunehmen, ist dies pure Kalkulation - er weiß, dass die EU von einer gemeinsamen Lösung weit entfernt ist. Wie also kann den Menschen auf Lesbos konkret geholfen werden? Eine erste wichtige und selbstverständliche Maßnahme ist es, Menschen in besonders prekärer Situation wie Kranke, Schwangere und Familien mit minderjährigen Kindern zu helfen. Wir brauchen ein europäisches Sofortprogramm, damit den Schwächsten geholfen werden kann. Dazu gehört medizinische Soforthilfe. Es reicht eben nicht aus, wieder einen neuen Kommissionsvorschlag zu beraten - sei er noch so viel besser als die Anläufe der Vergangenheit.

Rückbesinnung auf den Solidargedanken

Auch darf die griechische Regierung bei der Unterbringung von Flüchtlingen nicht im Stich gelassen werden, so wie es seit Jahren geschieht. Die elende Situation, wie sie auf Lesbos vorherrscht, hat die EU selbst zu verschulden. Dass einzelne deutsche Kommunen helfen wollen, ist ehrenwert, taugt aber nicht als nachhaltiges Gesamtkonzept. Die europäische Migrationspolitik braucht geordnete, faire und zügige Asylverfahren. Langfristig müssen der globale UN-Migrationspakt umgesetzt und sichere Migrationsrouten geschaffen werden. Generell braucht Migrationspolitik einen stärkeren menschenrechtlichen Ansatz, der nicht nur die Rechte der Migranten berücksichtigt, sondern auch die Rechte der Einwohner von Lesbos und den vielen anderen Inseln. Dies könnte auch zu mehr Akzeptanz unter der lokalen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen führen, die aufgrund der geografischen Gegebenheiten auch künftig primär in den Anrainerstaaten des Mittelmeers ankommen werden.

Schließlich müssen wir uns alle wieder dem Grundprinzip einer jeden menschenwürdigen Flüchtlings- und Migrationspolitik erinnern, das in zahlreichen europäischen Verfassungen fest verankert ist: Solidarität. In der Präambel des Vertrages über die Europäische Union heißt es: "schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen entwickelt haben". Auf der griechischen Insel Lesbos, einer Wiege unserer Kultur, ist davon wenig zu spüren.


Dieser Artikel erschien erstmalig auf faz.net und ist online auch hier zu finden.